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Émile Durkheim - Soziologie - Ethnologie - Philosophie
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Émile Durkheim - Soziologie - Ethnologie - Philosophie
von: Tanja Bogusz, Heike Delitz
Campus Verlag, 2013
ISBN: 9783593420035
582 Seiten, Download: 4878 KB
 
Format:  PDF
geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

Renaissance eines penseur maudit: Émile Durkheim zwischen Soziologie, Ethnologie und Philosophie

Tanja Bogusz & Heike Delitz

Gehört Émile Durkheim zu den penseurs maudits, den verfemten Denkern? Zu dieser Gruppe sind wohl diejenigen zu zählen, deren Werk zwar gemeinhin bekannt sein, sogar zum universitären Ausbildungskanon gehören mag, und das dennoch von den ihm anhaftenden Vorurteilen und karikierenden Verkürzungen nie ganz loskommt. Auch die kürzlich erschienene Gesamtausgabe der Werke Georg Simmels musste über hundert Jahre ausharren, weil man sich ausgerechnet in seiner Heimat lange Zeit uneinig blieb, ob Simmel überhaupt ein ?richtiger? Soziologe sei. Wie in einem Vexierglas spiegelt sich auf der anderen Seite des Rheins der Fall Durkheims: In Frankreich besteht zwar diesbezüglich kein Zweifel im Hinblick auf den Disziplinen-Gründer; von einer Werkausgabe ist man dort hingegen noch weit entfernt. Und es gehört zu den pikanten Details der Soziologiegeschichte, dass der lange Zeit als Determinist verschrieene Durkheim gerade in der Auseinandersetzung mit seinem Kollegen Simmel in einer Schrift aus dem Jahre 1900 besonders un-deterministisch argumentierte: Demzufolge gehörten die Strukturen dem Bereich des 'Werdens' an, hätten stets vorläufigen Charakter und seien untrennbar verbunden mit dem Prozess ihrer Herstellung (Durkheim 2009: 170). Es waren solche Prozesse, die Durkheim insbesondere in seiner Studie Die elementaren Formen des religiösen Lebens interessierten. Sie feiert im Jahr 2012 ihr 100-jähriges Bestehen. Abgesehen von Experten ist sie dem deutschsprachigen Publikum kaum bekannt. Höchste Zeit also, auch diesseits des Rheins zu gratulieren, einige Lücken zu schließen und dem großen Klassiker der Soziologie einen deutschsprachigen Sammelband zu widmen.

Émile Durkheim hat gemeinsam mit seinen Kollegen und Schülern eine eigene Schule begründet, mit ihr die Bedeutungen und Kernselbstverständlichkeiten des Faches zunächst in Frankreich und dann darüber hinaus geprägt - mit allen Gegenreaktionen, die dieser Versuch damals wie heute auf sich zog: etwa in der Rehabilitierung von Gabriel Tardes 'Mikrosoziologie'; in der Kritik an Durkheims Soziozentrismus und Positivismus; oder umgekehrt an seiner Metaphysik, seinem 'Hyperspiritualismus' (im Begriff des Kollektivbewusstseins, der conscience collective). Durkheim wurde oft verabschiedet. Man spottete über jenen jüdischen Soziologen, der die Gesellschaft auf den Olymp hob und tatsächlich von ihrer autodivination sprach. Wegweisend, aber seinerseits kritisiert, belächelt, und zuweilen absichtlich missverstanden, war insbesondere auch Durkheims methodologischer Satz, man müsse 'das Soziale aus dem Sozialen erklären', und es dabei als 'Ding' verstehen: sein sogenannter choismus. Bekannt und heute weniger umstritten ist die funktionale Perspektive dieser Soziologie, aus der sich etwa selbst das Verbrechen als gesellschaftlich ?nützlich? erweist. Von nachhaltiger Wirkung war schließlich seine methodische Vorgehensweise, die noch in den scheinbar persönlichsten Motiven gesellschaftliche Ursachen zu erheben suchte, wie vor allem seine Selbstmordstudie zeigte. Vor dem Hintergrund der soziologiegeschichtlichen Bedeutung und Originalität der französischen Sozialwissenschaft, die sich im Werk Durkheims und seiner Mitarbeiter zu einem interdisziplinären Dialog mit den zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaften verknüpfte, lohnt es sich, Durkheim noch einmal neu zu lesen - ohne die Vorurteile, die praenotiones vulgares (wie Durkheim zu sagen pflegte), die ihm gegenüber recht zahlreich waren.

Im Gegensatz zu diesen, oft radikalen, Brüchen mit Durkheim scheint die Bedeutung seines, des 'Durkheimschen Momentes' für die Geschichte der Soziologie und ihre Fachidentität allerdings unumstritten. Die 'Kommentare zu Durkheim lassen sich nicht mehr zählen' (Boudon 2008: 151), seufzen manche; dies gilt wohl für den angloamerikanischen und französischen, nicht aber für den deutschen Sprachraum. Anderswo gibt es eine Zeitschrift (Durkheimian Studies) und sogar einen Roman - in dem sich Durkheim zunächst um Max Webers Selbstmordabsichten Sorgen macht und dann selbst verschwindet: Durkheim is dead! (Berger 2003). Ist Durkheim inzwischen gar selbst ein 'Totem'?, fragten französische Soziologen und Philosophen kürzlich anlässlich eines Durkheim-Colloquiums in Paris und griffen damit eine rhetorische Figur Jeffrey Alexanders und Philipp Smiths (vgl. Alexander/Smith 2005: 3) auf: Ob in der Religions, Wissens, Wirtschafts, Kunst-, Kriminal- oder Bildungssoziologie, Methodologie oder Institutionentheorie, der Theorie des Symbolischen oder der Theorie der Praxis - überall, so scheint es, hat die Durkheim-Schule schon das Feld bestellt. Und je nachdem, welches Werk, welches Vokabular, welche Methode Durkheims man für interessant hält, scheint es ganz verschiedene ?Durkheims? zu geben, vom soziologistischen über den positivistischen zum kulturalistischen; vom konservativen über den strukturalen bis zum ?radikalen? Durkheim (vgl. ebd.: 5).

An Durkheim entzünden sich zugleich wie an kaum einem anderen Klassiker scharfe Debatten. Ist er für die einen ein deterministischer und konservativer Rationalist (zum Beispiel Latour 2003), behaupten die anderen, an ihm komme keine Sozialwissenschaft vorbei (zum Beispiel Bourdieu/Passeron 1981 [1967]; Joas 1996: 76 ff.). Über seine nachhaltige interdisziplinäre Wirkung sind sich Soziologen und Ethnologen bzw. Sozialund Kulturanthropologen ebenfalls uneinig. Während manche Soziologen meinen, Durkheim sei in der Anthropologie positiver aufgenommen worden als in der Soziologie (so Müller 1999), stellen manche Anthropologen fest, Durkheim werde in ihren Disziplinen kaum noch zitiert. Zwar erinnert die aktuelle Resonanz pragmatistischer Perspektiven in der Soziologie, Philosophie und Sozial- und Kulturanthropologie daran, dass es Durkheim war, der sich - im Selbstverständnis Soziologe - als einer der ersten europäischen Denker intensiv mit dem Pragmatismus auseinandergesetzt und ihm sogar die Vorlesungsreihe anlässlich der Einrichtung seines soziologischen Lehrstuhls an der Sorbonne gewidmet hat. Doch inwieweit diese Vorlesungen nicht nur wissenssoziologisch, sondern auch erkenntnistheoretisch und methodologisch produktiv sind, bleibt zumindest in der deutschsprachigen Diskussion kaum reflektiert.



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