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Kindeswohl und Kindeswille - Psychologische und rechtliche Aspekte
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Kindeswohl und Kindeswille - Psychologische und rechtliche Aspekte
von: Harry Dettenborn
ERNST REINHARDT VERLAG, 2017
ISBN: 9783497604142
171 Seiten, Download: 2065 KB
 
Format: EPUB, PDF
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

3 Das Wohl des Kindes

3.1 Die Problematik des Begriffs

Im Begriff „Kindeswohl“ ist eines der zentralen Regelungsanliegen des Familienrechts und des Kinder- und Jugendhilferechts verankert, nämlich das des Schutzes von Kindern und Jugendlichen. Reformen und Gesetzesänderungen der letzten Jahrzehnte im Kindschaftsrecht, im Eherecht, in den Sorgerechtsregelungen nutzen diese „Instanz“, wenn es darum geht, widerstreitende Interessen abzuwägen.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende Beispiele genannt: Im BGB wird das Kindeswohl als Bezugspunkt genannt in § 1697a BGB (Kindeswohlprinzip), in den §§ 1666 Abs. 1 (Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls), 1632 Abs. 4 (Herausgabe des Kindes; Bestimmung des Umgangs; Verbleibensanordnung bei Familienpflege), 1671, 1672, 1678, 1680 Abs. 2, 1681 Abs. 2 (elterliche Sorge), 1684 Abs. 4, 1685 Abs. 1 (Umgang), 1686 (Auskunftsrecht der Eltern), 1688 Abs. 3 (Befugnisse einer Pflegeperson), 1696 Abs. 1 und 2 (Änderung von gerichtlichen Anordnungen), 1697a (Kindeswohlprinzip), 1741, 1751, 1761 (Annahme Minderjähriger), 1757 (Namensänderung). Im SGB VIII wird auf das Kindeswohl Bezug genommen in den §§ 8a (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung), 27 (Anspruch auf Hilfe zur Erziehung), 38 (Einschalten des Jugendamtes bei Ausübung der Personensorge), 42 (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen), 44 (Pflegeerlaubnis).

Unter juristischem Aspekt ist „Kindeswohl“ ein unbestimmter Rechtsbegriff, eine Generalklausel, dessen Auslegung zum Inhalt richterlichen Entscheidens wird (s. Kap. 1).

Unter kognitionspsychologischem Aspekt ist der Begriff Kindeswohl der typische Fall einer Invariantenbildung: In einem schwer überschaubaren Feld wechselwirkender Einzelfaktoren wird die Komplexität reduziert durch Orientierung auf einen Bezugspunkt, und sei es auch lediglich ein theoretisches Konstrukt. Dadurch wird die Entscheidungsfindung erleichtert. Die Qualität des Entscheidens hängt davon ab, ob die gewählte Invariante tatsächlich die optimal sachadäquate Verdichtung auf die zu Grunde liegende Größe hin ist und Erklärungswert besitzt.

Unter moralpsychologischem Aspekt ist der Bezug auf das Kindeswohl ein Instrument der Rechtfertigung von Gesetzgebungs- oder Rechtsanwendungsakten, sowohl im Sinne begründeter Prinzipien als auch im Sinne der Motivveredelung und der missbräuchlichen Kaschierung einseitiger Interessen.

Unter wissenschaftstheoretischem Aspekt kann gelten: Der Begriff „Kindeswohl“ ist eine definitorische Katastrophe. Das hat verschiedene Ursachen. Einige dieser Ursachen werden im Folgenden erörtert.

(1) Obwohl als Orientierungs- und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen bzw. kindschaftsrechtlichen Handelns genutzt, wird nirgends im rechtlichen Regelwerk gesagt, was unter Kindeswohl zu verstehen ist. Obwohl als Schlüsselbegriff im Spannungsfeld von Elternrecht und staatlichem Wächteramt, findet der Begriff „Kindeswohl“ im Grundgesetz selbst keinen Platz, wohl aber fast üppig in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. In ihnen zeigt sich die verfassungsrechtliche Relevanz des Kindeswohls. Angeregt werden sie aber durch einfachgesetzliche Entscheidungen.

(2) Der Begriff „Kindeswohl“ soll als Instrument und Kriterium der Auslegung, z. B. der Kindesinteressen, dienen. Zugleich fehlt es ihm selbst an schlüssiger Auslegung. Bei wohlwollender Tendenz wird dies als Gestaltungsauftrag umschrieben. Häufig wird aber auch wenig zimperlich mit dem Begriff umgegangen. Er wird z. B. beurteilt als bar jeden normativen Gehalts, als „leere Schachtel“ (Steindorff 1994) oder hohle Mystifikation (Keiser 1998) oder als „Pauschalfloskel“, als „Worthülse“ (Ell 1990), als Mogelpackung (Goldstein u. a. 1991) sowie als ungeeignete Grundlage für eine professionelle Entscheidung (Figdor 2009).

(3) Dazu mag beitragen, dass der Begriff „Kindeswohl“ eben nicht in einem schlüssigen, sondern in mehreren Gebrauchskontexten vorkommt. Er soll unterschiedlichen Anforderungen und Zielen gerecht werden, deren logischer Zusammenhang eher lose ist.

(4) Kindeswohl ist ein Rechtsbegriff und muss es im Interesse von Rechtssicherheit bleiben. Aber er ist unter rechtlichen Aspekten allein nicht zu erfassen oder zu erklären, sondern nur mit interdisziplinärem Bezug, insbesondere durch Nutzung psychologischer Aspekte. Aber weder in der Psychologie noch in anderen Disziplinen gibt es Konzepte zum „Wohl“. Allenfalls gibt es welche zum Wohlbefinden oder zur Gesundheit, die aber nicht unmittelbar nutzbar sind.

(5) Daraus ergibt sich, dass jeder, der den Begriff Kindeswohl verwendet, seine Kompetenzen überschreitet. Der Jurist ist genötigt, über rechtliche und dadurch implizierte Wertaspekte hinaus auch psychologische Aspekte einzubeziehen. Da er nicht entsprechend ausgebildet ist, wird sein Entscheiden abhängig von den zufälligen Alltagskonzepten oder individuell erworbenem Fachwissen sein. Der Psychologe oder Pädagoge muss in seinen Empfehlungen zwangsläufig Wertaspekte und rechtliche Regelungsanliegen einschließen und damit seine Fachkompetenz überschreiten.

(6) „Kindeswohl“ ist kein empirischer Begriff, der beobachtbare Fakten benennt, sondern ein hypothetisches Konstrukt, ein alltagstheoretischer Begriff. Wie ideologieanfällig der Begriff ist zeigt sich beispielsweise, wenn Richter oder Sachverständige vor der Frage stehen: Soll von schicht- und milieuspezifischen Selbstverständlichkeiten oder von „objektiven“ Entwicklungsstandards ausgegangen werden, wenn beurteilt wird, ob ein Kind vernachlässigt und so dessen Wohl gefährdet wurde?

Die Problematik des Begriffs „Kindeswohl“ wird überwiegend als Misere empfunden und hat zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Sie reichen vom differenzierten Aufweis der Risiken (Zitelmann 2001, 2014; Münder 2013) über die Proklamation der prinzipiellen Undefinierbarkeit des Begriffs Kindeswohl (Palandt 2017; Figdor 2012; Köster 1997) bis hin zu der Forderung, den Begriff abzuschaffen (Steindorff 1994).

Die flächendeckende Verwendung des Begriffs „Kindeswohl“ im Familien- und Kindschaftsrecht schließt derzeit sowieso aus, ihn ernsthaft liquidieren zu wollen. Darüber hinaus erfüllt er anscheinend trotz aller Mängel und Nachteile in der Rechtspraxis eine unentbehrliche Funktion. Er hat jenes Maß an Erklärungswert, Nachvollziehbarkeit und Appellfunktion sowie jene Stufe an Verallgemeinerung, die eine integrierende Wirkung gestatten. Wenn das so ist, sollte im Vordergrund stehen, den Begriff „Kindeswohl“ produktiv und differenziert zu nutzen, d. h., seine Eignung als Erkenntnisinstrument zu forcieren, seine Humanisierungspotenziale unter den jeweils konkreten sozialen Bedingungen und Rechtsverhältnissen auszuschöpfen, seine Bewegung von den Rechten Erwachsener und der Institution Familie hin zur kindlichen Individualität mitzuvollziehen.

3.2 Drei Ebenen und das Gemeinsame: Eine Definition

Viele Unklarheiten bei der Interpretation des Begriffs resultieren daraus, dass verschiedene Ebenen nicht ausreichend unterschieden werden.

Auf der Rechtsebene steht im Vordergrund die Gestaltung von Rechtsverhältnissen. Auf der Grundrechtsebene ist der Komplex der Grundrechtspositionen des Kindes und des Jugendlichen gemäß Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG berührt. Das Kindeswohl zu sichern heißt, das Kindesrecht auf Entwicklung der Persönlichkeit zu gewährleisten.

Auf der Ebene einzelner Regelungsbereiche bzw. Rechtszweige wird das jeweils spezifisch umgesetzt. Hier geht es um die Spezifik innerhalb des Familienrechts und des Kinder- und Jugendhilferechts. In diesem Bereich stellt der Richtpunkt Kindeswohl die einzige Legitimation zum Eingriff des Staats in die Familienautonomie dar. Damit ist die Vorrangigkeit kindlicher Interessen bzw. Rechte gegenüber Elterninteressen oder den Interessen anderer Personen impliziert.

Relevante Kinderrechte sind z. B. in § 1 Abs. 1 SGB VIII formuliert: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Das kann in einzelnen Konfliktkonstellationen sehr unterschiedliche Gestalt annehmen; entsprechend vielfältig sind die konkreten Fragen nach dem Wohl des Kindes. Ist es durch gemeinsame Sorge beider Eltern oder Alleinsorge eines Elternteils eher gesichert? Liegt das Wohl des Kindes im Verbleib bei den Pflegeeltern oder in der Rückkehr zur leiblichen Mutter? Soll trotz sexuellen Missbrauchs der Kontakt zum Kindesvater gestattet werden, weil es insgesamt Kindeswohl dienlich ist, diese Beziehung aufrecht zu erhalten, oder ist das eine Gefahr für das Kindeswohl? Soll das Kind wegen Alkoholismus der Mutter untergebracht werden oder nicht?

Aber was ist das Gemeinsame all dieser Ebenen? Was sind die Grundlagen? Was ist der Kern? Danach zu fragen heißt, inhaltliche Fixpunkte und letztendlich eine Definition zu suchen, d. h. das Unmögliche zu wollen (s. oben). Es wird vorgeschlagen, unter familienrechtspsychologischem Aspekt als Kindeswohl die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen zu verstehen. Bedürfnisse werden im Sinne von postulierten bzw. zugeschriebenen, insofern „objektiven“, Entwicklungserfordernissen, also mehr im Sinne...



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