II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung (S. 49-50)
A. Das Ringen um die Kriegsschuld
1. Akten als Waffen
Das Jahr 1918 bedeutete eine tiefe Zäsur in der Geschichte des deutschen Nationalstaates. Der Ausgang des Krieges förderte das Bedürfnis nach einer historischen Aufklärung der jüngsten Vergangenheit. Vorerst trat dieses Verlangen jedoch hinter den Kampf gegen den Artikel 231 des Versailler Vertrages zurück. Einseitig belegte er, ursprünglich zur völkerrechtlichen Sicherung der Reparationsansprüche eingeführt, dann zunehmend stärker einen moralischen Sinn entwickelnd, das Reich mit der Kriegsschuld.
Das löste sehr bald schon einen „Weltkrieg der Dokumente" (BERNHARD SCHWERTFEGER) aus, in dem Regierung, Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft in einem 1983 bzw. 1984 von ULRICH HEINEMANN [342: Niederlage] bzw. WOLFGANG JÄGER [358: Forschung] unter jeweils verschiedenartigen Fragestellungen umfassend abgehandelten Rahmen zusammenwirkten. Ungeachtet der apologetischen Motive, die dabei zeitgenössisch dominierten, ragen heute die bleibenden editorischen Ergebnisse hervor, vor allem in Form der von FRIEDRICH THIMME herausgegebenen 40 Bände der „Großen Politik der europäischen Kabinette 1871–1914" [2].
Die Vorgeschichte dieser Aktenedition begann im Grunde damit, dass die deutsche Regierung, um dem in den westlichen Ländern vorherrschenden Urteil über Deutschlands Alleinschuld entgegenzutreten, drei Wochen nach dem Waffenstillstand die Einsetzung einer neutralen Kommission vorschlug, der die Archive aller am Weltkrieg beteiligten Staaten zur unvoreingenommenen Prüfung geöffnet werden sollten [225: R. J. SONTAG, Papers, 59].
Nachdem diese Initiative abgelehnt worden war, begann das Deutsche Reich damit, auf dem Feld einer Aufklärung der Kriegsschuld allein voranzugehen. Von dem durch die Nationalversammlung 1919 eingesetzten parlamentarischen „Untersuchungsausschuß für die Schuldfragen des Weltkrieges" über das im gleichen Jahr im Auswärtigen Amt eingerichtete „Kriegsschuldreferat" bis zu dem im Jahre 1921 gegründeten „Arbeitsausschuß deutscher Verbände gegen die Kriegsschuldlüge" und zu der gleichfalls 1921 ins Leben gerufenen „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen", die unter Leitung ALFRED VON WEGERERs, eines ehemaligen Of.ziers, vom Jahre 1923 an die Zeitschrift „Die Kriegsschuldfrage" erscheinen ließ (vom Jahre 1929 an unter dem Titel „Berliner Monatshefte"), ging es, bis in die zweite Hälfte der dreißiger Jahre hinein, in erster Linie um den mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft ausgetragenen Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge".
In welchem Ausmaß dabei politische Interessen gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis dominierten, zeigt exemplarisch der Fall des für den 1. Unterausschuss des Untersuchungsausschusses des Deutschen Reichstages angefertigten und sodann durch die Einwirkung des Auswärtigen Amtes nicht veröffentlichten, erst im Jahre 1967 von IMANUEL GEISS „aus dem Nachlaß" herausgegebenen „Gutachtens zur Kriegsschuldfrage 1914" [199] aus der Feder des bedeutenden Juristen HERMANN KANTOROWICZ, das, ohne eine Alleinschuld für das Reich zu postulieren, die deutsche Seite erheblich belastete. Unmittelbar nach der für viele Deutsche unfassbaren Niederlage herrschte freilich für einen historischen Moment lang eine Stimmung der Selbstanklage vor, der sich MAX WEBER in einem Schreiben vom 13. November 1918 so vehement widersetzte, weil das „Wühlen in Schuldgefühlen . . . Krankheit" [Zit. nach 101: H. VON HOYNINGEN, Untersuchungen, 1] sei.
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