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Lehrbuch Rechtspsychologie
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Lehrbuch Rechtspsychologie
von: Thomas Bliesener, Friedrich Lösel, Günter Köhnken (Hrsg.)
Hogrefe AG, 2014
ISBN: 9783456954110
571 Seiten, Download: 4629 KB
 
Format:  PDF
geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

Kapitel 1 Entwicklung und Gegenstand der Rechtspsychologie (S. 21-22)
Thomas Bliesener und Friedrich Lösel

1.1 Gegenstand der Rechtspsychologie

Unter Rechtspsychologie (im angloamerikanischen Bereich Legal Psychology oder Psychology and Law) versteht man nach Lösel und Bender (1993, S. 590) «alle Anwendungen psychologischer Theorien, Methoden und Ergebnisse auf Probleme des Rechts». Als eigenständiger Bereich der Angewandten Psychologie wurde die Rechtspsychologie insbesondere seit der Monographie von Toch (1961) verstanden. Unter dem Oberbegriff Rechtspsychologie teilt man Fragestellungen und Arbeiten oft ein in die beiden Kernbereiche Forensische Psychologie und Kriminalpsychologie (siehe z. B. Marbe, 1913, S. 22). Dabei befasst sich die Kriminalpsychologie im Wesentlichen mit der Beschreibung, Erklärung, Prognose, Prävention und Rehabilitation kriminellen oder – allgemeiner formuliert – dissozialen Verhaltens (vgl. Suhling & Greve, 2010). Die zentralen Themen der Forensischen Psychologie sind dagegen im Wesentlichen psychologische Fragestellungen, die sich in den verschiedenen Rechtsgebieten im Rahmen von Gerichtsverhandlungen oder verwaltungsrechtlichen Entscheidungen ergeben (Wegener, 1981).

Die Abgrenzung dieser beiden Teilbereiche und ihr Verhältnis zueinander hat man jedoch lange Zeit unterschiedlich aufgefasst. Noch Grossmann ordnete die Forensische Psychologie zusammen mit der Strafvollzugs- und der Polizeipsychologie der Kriminalpsychologie unter (Grossmann, 1971, S. 114), während Liebel und von Uslar (1975, S. 30) in der Forensischen und der Kriminalpsychologie eigenständige und gleichrangige Teilgebiete der Angewandten Psychologie sahen. Aus heutiger Sicht erscheint eine klare Trennung beider Bereiche angesichts der sich stetig ausdifferenzierenden Rechtspsychologie in weitere Themenfelder (z. B. Asylprobleme, Gerechtigkeitserleben, Opferschutz oder Polizeipsychologie) allerdings kaum noch angemessen. Eine eindeutige Aufteilung wird auch dadurch erschwert, dass sich einige rechtspsychologische Fragestellungen nicht hinreichend eindeutig nur einem der beiden traditionellen Bereiche zuordnen lassen. Dies gilt zum Beispiel für Gutachten zur Kriminalprognose oder für die behandlungsorientierte Diagnostik im Rahmen sozialtherapeutischer Interventionen. Auch aus diesen Gründen verwendet man seit etwa Mitte der 1970er Jahre im deutschen Sprachraum vermehrt den Begriff Rechtspsychologie, um diejenigen Anwendungsgebiete der Psychologie zu beschreiben, die im Wesentlichen von der Forensischen und der Kriminalpsychologie geprägt sind (Haisch & Sporer, 1983; Lösel, 1989).

Die Beschäftigung der wissenschaftlichen Psychologie mit Fragestellungen der Rechtspsychologie war lange Zeit anlassbezogen. Die einschlägige empirische Forschung betrieben überwiegend Psychologen, die eher zeitweilig – zum Beispiel anlässlich eines Begutachtungsauftrags – auf rechtspsychologische Probleme stießen. Die kontinuierliche Forschung an rechtspsychologischen Fragestellungen ist demgegenüber ein relativ neues Phänomen (Crombag, 1989). Das drückt sich unter anderem auch darin aus, dass die erste und bislang einzige Professur für Forensische Psychologie in Deutschland Mitte der 1980er Jahre in der Forensischen Psychiatrie in Berlin eingerichtet wurde und man diese trotz erfolgreicher Arbeit kürzlich nicht wiederbesetzt hat. Auf diese Probleme der institutionellen Verankerung wird weiter unten noch eingegangen.

1.2 Die Anfänge der Kriminalpsychologie

Historisch haben die beiden Kernbereiche der Rechtspsychologie unterschiedliche Ursprünge. Während die Forensische Psychologie aus der Anwendung experimenteller psychologischer Erkenntnisse auf die Rechtsprechung hervorgegangen ist, hat die Kriminalpsychologie als Teilbereich der Psychologie, der sich mit der Persönlichkeit und den psychischen Prozessen von Straftätern sowie den situativen Umständen vor, während und nach der Tat beschäftigt, ihren Ursprung in der «Erfahrungsseelenlehre» des «Verbrechers» (siehe Greve, 2004). Der 1768 in Husum geborene Philosoph und Lehrer am Pädagogikum in Halle Johann Christian Gottlieb Schaumann veröffentlichte 1792 seine Ideen zu einer Criminalpsychologie und führte damit den Begriff in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Wenngleich die Psychologie als eigenständige Wissenschaft zu damaliger Zeit noch nicht existierte, entwickelte Schaumann in fünf veröffentlichten Briefen eine Konzeption zum Begriff, Zweck, Nutzen, zur Methode und Systematik der «Criminalpsychologie». Einige Jahre später verwendete auch Heinroth den Begriff «Criminal-Psychologie» im Titel seiner Schrift aus dem Jahr 1833 und löste mit dieser Veröffentlichung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitere Arbeiten zur «Criminalpsychologie» aus (Greve, 2004). Dennoch setzte sich diese Bezeichnung für das Forschungsfeld zunächst nicht durch; stattdessen wurden kriminalpsychologische Untersuchungen und Fragestellungen der Kriminologie zugeordnet.

Als Begründer der Kriminologie gelten der Mailänder Jurist Beccaria (1738?1794) und der Turiner Arzt Lombroso (1835?1909); vgl. Schwind (2002). Während Beccaria als ein erster Vertreter einer modernen und wissenschaftlich orientierten Kriminalpolitik betrachtet werden kann (Bliesener & Thomas, 2012), vertrat Lombroso 1887 die These, dass Verbrecher an äußeren Merkmalen (stigmata) erkennbar sind, und prüfte diese Annahme mit umfangreichen empirisch-biometrischen Studien. Dieser anthropologische Ansatz vom Verbrecher als einem spezifischen Menschentypus fand in Europa zunächst zahlreiche Anhänger (siehe Kurella, 1893, S. III), wurde jedoch später heftig kritisiert und nicht weiterverfolgt. Der Begriff Kriminologie im Sinne eines abgegrenzten Wissenschaftsgebiets geht allerdings auf den Italiener Garofalo zurück, der im Jahr 1885 seine Monographie Criminologia veröffentlichte (vgl. Schwind, 2002).

Am zeitweilig mehr oder weniger großen Verlust eines abgegrenzten eigenständigen Bereichs der Kriminalpsychologie zugunsten der Kriminologie änderte auch nichts, dass 1872 Krafft-Ebing seine Grundzüge der Criminalpsychologie veröffentlichte, in denen er auf der Grundlage des Strafgesetzbuchs des deutschen Reiches auf die Entwicklung und Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit von Angeklagten und Zeugen einging. Wenige Jahre später gab Gross (1898) ein Übersichtswerk zur Criminalpsychologie heraus, das sich zum einen mit der «psychischen Thätigkeit des Richters» und zum anderen mit der «psychischen Thätigkeit des Vernommenen» beschäftigte. Mit dieser thematischen Ausrichtung können beide Arbeiten eher als Frühwerke der Forensischen Psychologie gelten. Für die uneinheitliche Entwicklung der Kriminalpsychologie mag mitverantwortlich sein, dass man sie bereits damals als einen interdisziplinären Wissenschaftsbereich betrachtete, in dem sich Juristen, Philosophen, Psychologen und Psychiater aus ihrer jeweiligen Perspektive mit den Erklärungen und Umständen der Kriminalität beschäftigten (Greve, 2004). Dieser interdisziplinären Ausrichtung entspricht auch, dass die traditionsreiche «Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform» 1904 als «Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform» gegründet wurde.

Wenngleich sich die Kriminalpsychologie heute besonders mit den psychologischen Fragen und Problemen der Erklärung, Prognose und Prävention von dissozialem (sozial inakzeptablem) Verhalten und der Intervention befasst (Lösel & Bender, 1993), hat sie ihren interdisziplinären Charakter mit engen Verknüpfungen zur Rechtswissenschaft, Kriminologie, Kriminalistik, Psychiatrie, Soziologie und (Sozial)Pädagogik bewahrt (Bliesener & Köhnken, 2005).



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