II. Der Adel im Mittelalter (S. 19)
Macht, gesellschaftlich wichtige Funktionen, Reichtum, Ansehen und/oder Vorbildwirkung kennzeichnen Eliten, wobei Ansehen Einfluss verleiht und insofern auch eine Art (potenzieller) Macht darstellt. Im europäischen Mittelalter und teilweise noch länger spielte der Adel sogar die Rolle einer multifunktionalen Elite.
Denn er dominierte durch seine Ämter und seine Macht politisch und militärisch, durch seinen Herrschaftsbesitz ökonomisch, durch sein überlegenes Prestige sozial und durch das Vorbild seiner Lebensweise und sein Mäzenatentum auch kulturell. Um aber zu einem «Adelsstand» zu werden, muss sich eine Elite bzw. Oberschicht auch rechtlich von der übrigen Bevölkerung absetzen, also «institutionalisieren», durch bestimmte erbliche Vorrechte wie z. B. ein Monopol auf gewisse Ämter.
Da sich für das Frühe Mittelalter allenfalls ererbtes Ansehen und konkrete Macht, nicht aber eine erbliche gehobene Rechtsstellung sicher nachweisen lassen, möchten manche Historiker für diese Zeit sogar ganz auf den Begriff «Adel» verzichten.
1. Grundlagen des europäischen Adels im Frankenreich
Das Vorbild aller späteren «europäischen» Adelsbildungen dürfte – so jedenfalls die These von K. F.Werner – der christianisierte römische Senatorenadel gewesen sein. Dessen Angehörige hatten ursprünglich sozusagen eine angeborene Anlage dazu besessen, vom Kaiser in hohe Ämter (honores) berufen zu werden. Seit Kaiser Konstantin († 337) kehrte sich dieses Verhältnis zeitweise um: Wer in ein hohes Amt berufen wurde, trat in den «Kaiserdienst» in Verwaltung, Heer oder Episkopat ein.
Ein persönlicher Treueeid verpflichtete ihn zum Gehorsam, band ihn geradezu an den Herrscher – bestand das Zeichen seines Amtes doch in einem Gürtel. Erst dadurch gehörte er zu den «Adeligen» (nobiles), und die in der Ämterlaufbahn erreichte Stellung bestimmte seinen Rang. Hier war also ein meritokratisches Element angelegt.
Wie die späteren Kaiser und Könige, aber auch kleinere selbstständige Fürsten und Herren sich am Vorbild des autokratischen, nunmehr christlichen Kaisers orientiert hätten, habe sich der Adel – so Werner – seitdem als Repräsentant der «öffentlichen Gewalt» als auch der Kirche gefühlt, mit einer mehr oder minder ausgeprägten Treue gegenüber dem «ersten Mann» im «Staat».
Tatsächlich dominierten im Gebiet des heutigen Frankreich zu spätrömischer Zeit die Mitglieder einer gallorömischen, vorrangig aus dem Senatorenadel gebildeten Oberschicht. Sie verfügten über große Ländereien, eine zahlreiche, auch militärisch einsetzbare Klientel und besetzten die höheren Verwaltungspositionen und die Bischofsstühle.
Dabei förderten die meist adeligen Bischöfe den Kult eines oder mehrerer Stadtheiliger und gewannen damit eine Legitimation dafür, dass sie sich zunehmend zu den eigentlichen Herren der alten Römerstädte in Gallien (und Norditalien) aufschwangen. Denn je mehr die Zentralge- walt an Einfluss verlor und deren Vertreter nicht, wie auf der Iberischen Halbinsel häufig, ihre Stellung einigermaßen zu halten vermochten, sondern emigrierten, aufs Land zogen bzw. sozial absanken, desto mehr wuchsen ihnen auch weltliche Führungsaufgaben zu.
Ähnlich wie im Falle des Petrusgrabs in Rom verlieh etwa in Tours, Trier, Köln oder Reims nicht zuletzt die Aufsicht über Heiligengräber bzw. -reliquien den dortigen Bischöfen sogar eine überregionale Bedeutung. So konnten sie zu Partnern der Merowinger werden.
Spätestens im 5./6. Jahrhundert hatten Germanen (wie auch Slawen und andere Indoeuropäer) ebenfalls ihre vornehmen Familien: Diese zeichneten sich durch ihr Ansehen qua Geburt, ihren Ahnenkult, umfangreichen, vererbbaren Besitz und die Bildung eigener Heiratskreise aus.
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