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Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert
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Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert
von: Ulrich Herbert
Verlag C.H.Beck, 2014
ISBN: 9783406661372
1453 Seiten, Download: 3838 KB
 
Format: EPUB, PDF
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

     Einleitung


Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in zwei Epochen geteilt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die erste Hälfte war von Kriegen und Katastrophen gekennzeichnet, wie sie die Welt nie zuvor gesehen hatte. In ihrem Mittelpunkt stand Deutschland, mit dessen Namen seither die furchtbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbunden sind. Die zweite Hälfte führte schließlich zu politischer Stabilität, zu Freiheit und Wohlstand, wie sie nach 1945 völlig unerreichbar schienen. Die Beschäftigung mit dem Problem, wie sich erste und zweite Hälfte des Jahrhunderts in Deutschland historisch zueinander verhalten, bildet den einen Argumentationsbogen dieses Buches. Wenn man für diese Epochenteilung ein symbolisches Datum nennen sollte, dann vielleicht den Sommer 1942, als mit dem Beginn der Aktion Reinhard die systematische Ermordung nahezu aller polnischen Juden begann und zugleich die Massendeportationen der Juden aus Westeuropa nach Auschwitz in Gang gesetzt wurden. Wie die Entwicklung in Deutschland von der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte des Landes um die Jahrhundertwende zu diesem Tiefpunkt führen konnte, ist die eine Frage. Wie die Deutschen in den folgenden sechzig Jahren aus dieser Apokalypse herausfanden, die zweite.

Gleichwohl, die Menschen wussten fünfzehn oder zwanzig Jahre zuvor nicht, was im Sommer 1942 geschehen würde, sie konnten es nicht einmal ahnen. Das gilt sogar für die Antisemiten und die zu dieser Zeit noch ziemlich wenigen Nationalsozialisten. Das begrenzt die Frage, «wie es dazu kommen konnte», und verweist auf die Offenheit des Geschehens, auf die Alternativen und die zahlreichen Nebenwege und Seitengassen der Geschichte. Noch im Juni 1914 war der Erste Weltkrieg abwendbar. Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 erzielten die Nationalsozialisten ganze 2,6 Prozent der Stimmen. Noch im Herbst 1939 war das Schicksal der europäischen Juden ungewiss. Wer nur nach der Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart oder der zeitlich je unterschiedlichen Gegenwarten fragt, folgt einer verborgenen Teleologie und blendet jene Entwicklungen aus, die abgebrochen wurden, die scheiterten oder im Sande verliefen.

Eine Zwangsläufigkeit enthält die Entwicklung zwischen der Jahrhundertwende und der Apokalypse des Massenmords nicht, obwohl die Kräfte, die dahin drängten, deutlich auszumachen sind. Aber ebenso wenig war nach 1945 der Wiederaufstieg zunächst des westlichen, dann des ganzen Deutschlands zu Freiheit und Wohlstand zwangsläufig. Dass ein wirtschaftlicher Aufschwung folgen konnte, war angesichts der industriellen Potentiale immerhin nicht ausgeschlossen, obwohl angesichts der Zerstörungen bei Kriegsende nur wenige daran glaubten. Aber dass es noch einmal gelingen konnte, in diesem Volk und seiner Führung den Sinn für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde zu wecken, und diese auch dauerhaft umzusetzen, schien doch nahezu ausgeschlossen. Die langsame Verwandlung von einer nationalsozialistisch geprägten in eine zunehmend westlichliberale Gesellschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik verfolgen können, ist eine der bemerkenswertesten Entwicklungen in diesem Jahrhundert, und zwar umso mehr, je klarer das tatsächliche Ausmaß der Belastung durch die personellen und mentalen Hinterlassenschaften der NS-Diktatur vor Augen tritt.

Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war wiederum geteilt, wenngleich auf andere Weise, mit der Folge, dass die Menschen im östlichen Teil Deutschlands erst am Ende des Jahrhunderts Gelegenheit bekamen, an der Freiheit und dem Wohlstand der Westdeutschen teilzuhaben. Den Menschen im Westen erging es nach 1945 viel besser als jenen im Osten, wenngleich nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch die Launen des Schicksals und der Besatzungsmächte; und bald schien es, als hätten die Deutschen im Osten die Folgen des Krieges alleine zu tragen. Dabei war die Geschichte der DDR nicht weniger, sondern eher noch stärker auf das Jahr 1945 bezogen als jene der Bundesrepublik – als Produkt der Besatzungspolitik der sowjetischen Siegermacht, aber auch als Reaktion der deutschen Kommunisten auf Faschismus und Krieg. Die hier vorliegende Darstellung ist von einer vergleichenden Geschichte der beiden deutschen Staaten weit entfernt. Aber es ist ganz unvermeidlich, dass die Bezüge, Verflechtungen, Antagonismen beider Staaten hier ebenso eine Rolle spielen wie Unterschiede und Ähnlichkeiten.

Dieser erste Argumentationsbogen, dem dieses Buch folgt, besitzt ohne Zweifel eine exklusiv deutsche Signatur. Die deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert unterscheidet sich von der Geschichte aller anderen Länder, und sie geht nicht in der europäischen Geschichte auf. Sie ist gleichwohl auch eine europäische Geschichte, und daher steht der zweite Argumentationsbogen dieses Buches zu dem ersten in Widerspruch, weil er die Zäsur des Jahres 1945 überwölbt.

Er bezieht sich auf die Durchsetzung der Industriegesellschaft in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen dieser fundamentalen Umwälzung auf die Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und namentlich auf die Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert. Anders als in den Jahrzehnten zuvor waren die der Industrialisierung innewohnenden Tendenzen seit der Jahrhundertwende nämlich nicht mehr auf spezifische Gruppen und wenige Regionen begrenzt, sondern verwandelten das Leben nahezu aller Menschen – und zwar innerhalb einer Generationenspanne und so grundlegend wie nie zuvor in der Geschichte.

Intensität und Dynamik dieser Veränderungen stellten die Zeitgenossen vor außerordentliche Herausforderungen. Die in den Folgejahrzehnten festzustellenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bewegungen, die mit großer Radikalität auftraten, sind vor allem als Versuche der Reaktion, der Antwort auf diese Herausforderungen zu verstehen, die zum einen als nie gekannter Fortschritt, zugleich aber als tiefe, existentielle Krise der bürgerlichen Gesellschaft empfunden wurden. Die Suche nach einem Ordnungsmodell von Politik und Gesellschaft, das auf diese rasenden Veränderungen reagierte und sowohl Sicherheit wie Dynamik versprach, Gleichheit wie Wachstum, prägte die folgenden Jahrzehnte.

Dabei verlor das liberalkapitalistische Ordnungsmodell in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, der Inflation und besonders nach der Weltwirtschaftskrise an Legitimität und Überzeugungskraft und sah sich der Konkurrenz der radikalen Alternativen von links und rechts gegenüber, die gegen Pluralität und Diversität das Prinzip der Einheit und der Dichotomien setzten, in den Kategorien der Klasse oder der Rasse. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts kann in weiten Teilen als eine Geschichte dieser Konkurrenz verstanden werden. Dabei verkörperten Nationalsozialismus und Kommunismus keine «antimodernen» Gesellschaftsformationen, sondern andere Entwürfe zur Ordnung der modernen Welt, in der der liberale Dreiklang aus freier Wirtschaft, offener Gesellschaft und wertbezogenem Universalismus auf je spezifische Weise durchbrochen wurde. Beide sind zu verstehen als komprimierte Antworten auf die seit der Jahrhundertwende sich vollziehende Wandlungsdynamik, radikalisiert durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und durch die Auseinandersetzungen mit den je konkurrierenden Ordnungsentwürfen.

Durch den Sieg und die überlegene militärische und wirtschaftliche Kraft des Westens, vor allem der USA, wurden die Prinzipien des liberalen, demokratischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder reaktiviert und entfalteten in Deutschland wie in ganz Europa nach dem Kriege eine Anziehungskraft, wie man sie in den dreißiger Jahren nicht mehr für möglich gehalten hatte. Aber erst als sich in den 1950er Jahren freie Marktwirtschaft und liberales System als stabil und erfolgreich erwiesen, setzte sich die liberale Option tatsächlich durch – als «Soziale Marktwirtschaft» deutlich in Konkurrenz zu der Konzeption des sowjetischen Sozialismus in der DDR und eingebunden in die globale Konfrontation des Kalten Krieges.

Hier bildete sich in Westdeutschland wie in den meisten anderen westeuropäischen Gesellschaften sukzessive ein Modell heraus, das Kapitalismus und Sozialstaat integrierte, liberale Ideen mit immer weiter reichenden Planungskonzepten verband und nationalstaatliche Orientierungen mit der Einbindung in die europäische Integration verband – verstanden als eine Geschichte des Fortschritts, der Eindeutigkeit und der Kohärenz und nach wie vor orientiert auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Ihren Höhepunkt erlebte die klassische Industriegesellschaft in den 1960er Jahren, danach begann sie an Prägekraft zunehmend zu verlieren. Die bis dahin unangefochtene Stellung von Schwerindustrie und industrieller Massenarbeit geriet ins Rutschen, und das Modell des industriellen Fortschritts geriet an seine Grenzen – sowohl im Westen, wo die Bergwerke, Stahlunternehmen und Schiffswerften geschlossen wurden, als auch in der DDR und den anderen Ländern des sowjetischen Imperiums, die in ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung vollständig auf Schwerindustrie und Massenarbeit orientiert waren und mit der Erosion der klassischen Industriegesellschaft zusammenbrachen. Der liberale Kapitalismus des Westens erwies sich als flexibler und passte sich seit den 1970er...



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