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Forensische Psychiatrie - Rechtsgrundlagen, Begutachtung und Praxis
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Forensische Psychiatrie - Rechtsgrundlagen, Begutachtung und Praxis
von: Norbert Konrad, Wilfried Rasch
Kohlhammer Verlag, 2013
ISBN: 9783170254916
500 Seiten, Download: 3206 KB
 
Format: EPUB, PDF
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

1          Ethische Grundlagen


1.1       Selbstverständnis


Forensische Psychiatrie (und Psychotherapie) ist ein Schwerpunkt, den Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie nach Abschluss ihrer Facharztausbildung erwerben. Forensisch-therapeutische Tätigkeit – mitunter verzerrt als Kriminaltherapie bezeichnet – findet vor allem in Maßregelvollzugskliniken und forensischen Ambulanzen sowie im Justizvollzug – dort häufig in Psychiatrischen Abteilungen sowie im Rahmen konsiliarpsychiatrischer Tätigkeit – statt. Während sich die therapeutische Tätigkeit forensischer Psychiater von jener der Allgemeinpsychiater im Hinblick auf die Therapieformen wenig unterscheidet, der rechtliche Rahmen der Tätigkeit jedoch das Tätigkeitsfeld wesentlich bestimmt, wird dem Forensischen Psychiater als Gutachter eine spezifische Rolle zugewiesen.

Es stellt sich die Frage, wie der Gutachter mit den vielfältigen Erwartungen umgeht, die an ihn herangetragen werden, wie er sich auf seine Gesprächspartner einzustellen vermag, wie er die so selbstverständlich erscheinende Forderung nach Neutralität und Objektivität erfüllen kann. Wie der Sachverständige sich selbst und seine Aufgabe vor Gericht wahrnimmt, beeinflusst auch das Ergebnis seiner Expertisen. Ein Psychologe oder Psychiater, der als Sachverständiger vor Gericht Verpflichtungen annimmt, hat sich den dort geltenden Regeln anzupassen; er kann in seiner praktischen Tätigkeit auch nicht nach Axiomen einer Theorie handeln, die den Grundlagen unseres Rechtsgedankens zuwiderlaufen. Eberhard Schmidt (1962) hat das so formuliert: » Ein Sachverständiger, der, aus welchen Gründen immer, Begriffe wie Schuld, Schuldfähigkeit, Vorwerfbarkeit, persönliche Verantwortlichkeit als wissenschaftswidrig verwirft, der alles ›Strafen‹ als Requisit überwundenen Aberglaubens ansieht und nur noch ein Heilen neurotischer Zustände für diskutabel erklärt, kann von Gesetzes wegen nicht die ›Gehilfen‹ Rolle spielen, die die StPO ihm zuweist.«

Dem ist prinzipiell zuzustimmen. Die Übernahme der in der Jurisprudenz geltenden Kategorien durch den Gutachter bildet sozusagen die Geschäftsgrundlage. Es wäre unredlich, wollte der Sachverständige diese Übernahme nur vorgeben, tatsächlich aber versuchen, das System trickreich zu unterlaufen. Das hindert ihn allerdings nicht, die einzelnen Begriffe, die durch gemeinsame Anstrengungen von Juristen, Psychologen und Psychiatern zu füllen sind, auch im Einzelfall neu auszulegen. Die Interpretationen von Rechtsbegriffen durch die Rechtsprechung mit dem Ziel, Innovationen anzustoßen, sind eher notwendig als Reformen durch den Gesetzgeber, weil sie den täglichen Erfordernissen mehr Rechnung tragen. Wenn der Sachverständige in seiner Gehilfen- oder Beraterfunktion ernst genommen wird, kommt ihm bei der Entwicklung derartiger Innovationen eine wichtige Rolle zu. Das bedeutet auch, dass er den Einzelfall nicht nach einem Schema behandelt, das ihm ein Lehrbuch vorschreibt. Ferner aber kann der Sachverständige, der im Gerichtssaal sein Gutachten systemgerecht vorträgt, sich außerhalb dieser Tätigkeit natürlich kritisch Gedanken machen, ob die Grundlagen unseres Rechtsdenkens nicht hier und da Korrekturen vertragen würden.

Die Tätigkeit des Verhaltenswissenschaftlers vor Gericht verlangt aber noch mehr als die Übernahme der Grundlagen des Rechtsgedankens; sie verlangt von ihm, sich jemandem zu unterstellen bzw. von jemandem leiten zu lassen, dessen Autorität er nicht unbedingt anerkennt. Es gibt eine Reihe von Umständen, die den Psychiater oder Psychologen von einer Tätigkeit im Gerichtssaal abschrecken können. Roberts (1968) hat zusammenfassend aufgezählt: »Persönliche Beleidigung, öffentliche Kritik, Terminschwierigkeiten, geringe Entschädigung, schlechte Beziehung zum Juristenstand, zum Teil durch unbegründete Angriffe verursacht; ferner Verlust an Würde und Status als Konsequenz der Konfrontation mit scharfzüngigen Anwälten«. Nach dem Eindruck von Sadoff (1975) ist es aber doch so, dass sich viele Psychiater wegen der Fülle von Frustrationen, denen sie in foro ausgesetzt wären, von der Übernahme von Sachverständigenpflichten fernhalten und froh sind, dass es »masochistische« Kollegen gibt, die sich als forensische Psychiater zur Verfügung stellen.

Die viel diskutierten Verständigungsschwierigkeiten zwischen Richtern und Sachverständigen lassen sich am ehesten aus den traditionellen Beziehungen zwischen Strafrecht und Psychiatrie ableiten. Beide Disziplinen haben die gesellschaftliche Aufgabe, sich um Mitbürger zu kümmern, die ein Verhalten zeigen, das von der Gesellschaft als unnormal und/oder störend erlebt wird. Die Zielgruppen von Strafrecht und Psychiatrie zeigen Ähnlichkeiten, zum Teil sind sie sogar identisch. Hierdurch ergeben sich Reibungen zwischen den beiden Spezialwissenschaften. Sofern sich eine Person als eindeutig kriminell oder als eindeutig krank einordnen lässt, erscheint die Zuständigkeit nicht zweifelhaft. Zwischen diesen Polen gibt es jedoch eine breite Grauzone psychischer Abnormität: Menschen, die nicht »böse« genug sind, als dass Strafe die angemessene Reaktion für ihr Fehlverhalten erscheint, und Menschen, die nicht »verrückt« genug sind, als dass man sie zwanglos als Patienten einstufen möchte. Um dieses gesellschaftspolitische Niemandsland wird zwischen Juristen und Psychiatern gekämpft, ohne dass die Zielsetzung des Kampfes immer klar ist.

Die Beschäftigung mit dem prinzipiell gleichen oder doch sehr ähnlichen Gegenstand unter verschiedenen Leitideen bedingt, dass zwei parallele Denksysteme entwickelt wurden, um sich mit eben diesem Gegenstand auseinanderzusetzen (Weisstub 1978). Es gibt in beiden Systemen die gleichen Begriffe, die unter Umständen aber etwas ganz anderes beinhalten, und gleiche Inhalte, die mit anderen Begriffen belegt sind. Dies verursacht im Einzelfall ein endloses Aneinander-Vorbeireden, bedingt Rivalität und führt zu Kompetenzkämpfen, aber auch – von beiden Seiten – zu Anpassungsbemühungen.

Ist der Psychiater bereit, sich als Sachverständiger zur Verfügung zu stellen, muss er sich also in eine neue Rolle begeben und sein Selbstverständnis modifizieren. Er ist zur Anpassung gezwungen, da seine Denkgesetzlichkeiten in dem anderen Bereich nicht gelten. In den psychologisch-psychiatrischen Kategorien gibt es zum Beispiel nicht den Begriff der Schuld, der in der strafrechtlichen Dogmatik aber zentrale Bedeutung besitzt. Die Diskussion um Schuldfähigkeit und Verantwortung setzt also voraus, dass sich der Sachverständige dem fremden Begriffssystem anpasst und vieles von dem eigenen aufgibt. Im Einzelfall bedeutet dies auch, dass das Bemühen des Sachverständigen vergeblich sein kann, seine Befunde mit den Begriffen des eigenen Systems darzulegen.

Abb. 1: Juristisch-psychiatrische Kommunikation (© Paul Jamin; Nachdruck mit Erlaubnis)

Der zwischen Juristen und Psychiatern im früheren Schrifttum diskutierte Kompetenzstreit lässt sich, wie Schewe (1976) dargelegt hat, weniger pointiert sehen, als dies in der Literatur – übrigens im Gegensatz zur Praxis – im Allgemeinen geschieht. Der Psychiater hat eigentlich keine Kompetenz im Gerichtssaal und kann sie insofern auch nicht überschreiten; das Maß seiner Zuständigkeit hängt von dem Aktionsradius ab, den man ihm von der Richterbank her einräumt. Zum anderen aber wird durch eine unterstellte Kompetenzüberschreitung durch den Sachverständigen das Gutachten nicht automatisch entwertet, sofern er sonst alles richtig gemacht hat. Tatsächlich erwartet das Gericht auch im Allgemeinen, dass der Sachverständige deutlich zu erkennen gibt, wie er die im Raum zwischen den beiden Disziplinen liegenden Fragestellungen beurteilt, also zum Beispiel die Schuldfähigkeit oder die Geschäftsfähigkeit. Er sollte sich hierzu auch äußern, wenngleich diese Äußerung nur als Verständigungs-Kürzel zu verstehen ist, als eine Art unverbindlicher Vorschlag. Der Rückgriff auf umständliche Umschreibungen, durch die sogenannte Kompetenzverletzungen vermieden werden sollen, läuft Gefahr, zu einer unechtverkrampften Parodie zu werden.

Das Problem der Kompetenzüberschreitung durch den Sachverständigen hat weniger Gewicht in Bezug auf die Möglichkeit, dass er sich zu Rechtsbegriffen äußert, als bei möglichen Stellungnahmen zu Fragen, die letztlich nur durch Ermessen zu entscheiden sind. Wollte man Sarstedts (1968) Forderung ernst nehmen, dass der Psychiater dem Gericht »nur« beschreiben sollte, wie es zur Tatzeit im Kopf des Täters aussah, liefen die Juristen viel eher Gefahr, sich der Allmacht des Sachverständigen auszuliefern, denn eine derartige Stellungnahme...



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